Die Wohnanlage „Hessenring“ in Rüsselsheim zeigt modellhaft für viele Wohnsiedlungen im Rhein-Main-Gebiet, wie durch Aufstockungen und Anbauten in Holzbauweise sowohl der bestehende Wohn- als auch wertvoller Baumbestand erhalten werden können. Nun wurde das Frankfurter Architekturbüro FFM-ARCHITEKTEN für seine Planung mit dem 4. Hessischen Preis für Innovation und Gemeinsinn im Wohnungsbau ausgezeichnet. Hendrik Tovar, Partner bei FFM-ARCHITEKTEN, berichtet über kreative Wege, mit den Herausforderungen des Bestands umzugehen.
Herr Tovar, welche Ausgangssituation haben Sie bei der Wohnanlage „Hessenring“ vorgefunden?
Die Wohnanlage am Hessenring besteht aus vier typisierten, dreigeschossigen Mehrfamilienhäusern der 1960er Jahre, die zeilenförmig zum Hessenring ausgerichtet sind. Jedes Gebäude besteht aus drei abgeschlossenen Häusern, welche als Zweispänner organisiert sind. Zusätzlich befindet sich ein Hochhaus auf dem Grundstück, welches in die Freianlagen eingebunden, jedoch selbst nicht Teil der Maßnahme ist. Die Anlage umfasst eine großzügige, aber wenig genutzte und in die Jahre gekommene Grünfläche mit altem Baumbestand und oberirdischen Parkplätzen. Mittels einer Vorstudie wurden Modernisierungs- und Nachverdichtungspotenziale für das Quartier aufgezeigt.
Welche Projektziele standen im Zentrum Ihrer Planungen?
Mit einem neuen Bebauungsplan für dieses und ein angrenzendes Quartier mit Sozialeinrichtungen ermöglichen die Stadt Rüsselsheim und die Gewobau auf dem Grundstück ein zukunftsfähiges, lebendiges Wohnquartier. In Bezug auf die Innenentwicklung war ein Ziel, vorhandene Flächen zu nutzen und zusätzlichen Wohnraum durch Nachverdichtung und Aufstockung zu schaffen. So entstehen 52 zusätzliche Wohnungen durch Nachverdichtung mit dem „Satelliten“ zwischen den Zeilen und Aufstockungen des Bestands. Darüber hinaus werden 72 Bestandswohnungen vollsaniert. Ein weiteres Ziel war es, ein Quartier für alle Lebensphasen zu entwickeln, das ein zukunftsfähiges und soziales Wohnumfeld mit gemeinschaftlich nutzbaren Flächen bietet. Alle neuen Wohnungen sowie Teile des Bestands sollten barrierefrei oder rollstuhlgerecht gestaltet werden. Der Erhalt des Baumbestands war auch sehr wichtig. Daher haben wir die Neubauten und Erschließungen gezielt zwischen den bestehenden Bäumen platziert. Was das Thema Nachhaltigkeit angeht, wird durch den Erhalt der Bestandsgebäude graue Energie genutzt und der Neubau bzw. die Aufstockungen aus nachwachsenden Rohstoffen konzipiert. Die Energieversorgung setzt auf erneuerbare Energien.
Die Visualisierung ermöglicht einen Blick auf den Satelliten von Haus 28A. (Abbildung: FFM-ARCHITEKTEN. I mainfeld ffm.
Wie haben Sie die Vorgabe nach barrierefreien Wohnungen umgesetzt und welche Hürden gab es dabei zu überwinden?
Aufgrund der Hochparterre-Lage der Erdgeschosse ist eine barrierefreie Erschließung der Bestandsgebäude nicht möglich. Daher konnten wir die barrierefreie Umgestaltung des Altbestands und der Aufstockungen aufgrund der Gegebenheiten nicht ohne weitere Maßnahmen umsetzen. Es entstand die Idee, pro Zeile eine neue, freistehende Treppenanlage mit einem Aufzug zu schaffen, die es erlaubt jeweils ein Haus der Bestandszeile, die gesamte Aufstockung und einen Neubau zwischen den Zeilen barrierefrei zu erschließen. Um dies wirtschaftlich umzusetzen sind mittels Laubengangerschließung und Stegverbindung jeweils 16 Wohnungen mit einem Aufzug verbunden. Herausfordernd war es, die Neubauten und den Bestand sowohl in der Höhenlage, als auch im Grundriss barrierefrei miteinander zu verknüpfen. Dazu war ein exaktes Aufmaß auch während der Arbeiten des Bestands und der Bäume zwingend erforderlich. Um eine wirtschaftliche, typisierte Gestaltung der Satelliten zu ermöglichen, haben wir zwei Erschließungstypen der Stege – gerade und schräg – entwickelt um bestmöglich auf die örtliche Situation reagieren zu können.
Für Aufstockungen bringt der Baustoff Holz aufgrund statischer Belange und der Nutzungsmöglichkeit vorgefertigter Teile große Vorteile mit sich. Welche Gründe führten dazu, auch die Anbauten in Holzbauweise vorzusehen?
Die Entscheidung, die Anbauten ebenfalls in Holzbauweise auszuführen, hat mehrere Gründe: Zum einen stand nur ein relativ schmales Baufeld zur Verfügung. Die schlanken, hochwärmegedämmten Außenwände sind ca. 30 cm dick. Das ermöglicht eine optimale Raumausnutzung und erfüllt zugleich die hohen energetischen Standards des KfW 55. Zudem konnte durch die präzise Platzierung der Holzbauelemente, montiert mit Mobilkränen außerhalb des Baufelds, der wertvolle Baumbestand geschützt werden. Die serielle Vorfertigung der Holzbauten verkürzt die Bauzeit und minimiert die Lärmbelästigung für die Bewohner des Bestands. Zudem prägt die sicht- und spürbare Materialqualität des Holzes in den Innen- und Außenräumen das gesamte Quartier. Alle Wohnungsdecken auch in den Satelliten sind als sichtbar bleibende Holzkonstruktion ausgeführt. Durch die Holzkonstruktion der Fassaden entsteht im Zusammenspiel mit den verputzten Bestandsbauten eine warme, wohnliche Qualität. Die Synergieeffekte sind weitere Vorteile, denn die Aufstockungen mussten aus statischen Gründen aus Holz hergestellt werden. Nicht zuletzt leistet die Verwendung von nachwachsenden Rohstoffen auch einen positiven Beitrag zum Klimaschutz.
Lesen Sie mehr zu den Forderungen nach einem zweiten Rettungsweg für die aufgestockte Ebene sowie dem Umgang mit dem Baumbestand in der Ausgabe 2.2025 von QUARTIER – Fachmagazin für urbanen Wohnungsbau.
[Auszug aus QUARTIER 2.2025]
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