Im Dezember 2018 ist die ISO 19650 „Informationsmanagement mit BIM“ veröffentlicht worden, die deutsche Fassung folgt. Volker Krieger, CDO der TMM Gruppe, und Sven-Eric Schapke, Director BIM/PLM bei think project!, waren für das Deutsche Institut für Normung DIN an der Erarbeitung des Standards beteiligt. Im Interview geben sie exklusiv ihre Einschätzung zum Standard und seiner Bedeutung.
Redaktion: Worum geht es in der ISO 19650 und welche Bedeutung hat sie?
Volker Krieger: Die ISO 19650 „Informationsmanagement mit BIM“ ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Digitalisierung der gesamten Wertschöpfungskette eines Bauwerks bzw. Assets. Teil 1 und 2 der ISO 19650 sind im Dezember 2018 erschienen. Der erste Teil heißt auf Englisch „Concepts and Principles“. Er beschreibt wesentliche Grundbegriffe für das Informationsmanagement. Erstens, die „Information Requirements“, also die inhaltlichen Anforderung an einzelne Informationslieferungen (Exchange Information Requirements EIR) oder auch die gesamte Projektdokumentation. Zweitens, der bei uns als BAP bezeichnete BIM-Abwicklungsplan (Engl. BIM Execution Plan BEP) mit den Verfahrensregeln zum Informationsaustausch und zur Zusammenarbeit im Projekt. Das dritte Instrument ist, und das wird meistens unterschlagen, der Master Information Delivery Plan (MIDP), also der Plan der erforderlichen Informationslieferung. Der wohl bekannteste Begriff ist schließlich das Common Data Environement (CDE). Das ist vielleicht sogar der interessanteste Teil. Die drei vorher genannten Begriffe bezeichnen lebende Dokumente. In diesen werden Anforderungen, Regeln und Vereinbarungen festgelegt und im Laufe des Projektes fortgeschrieben. Das Common Data Environment (CDE) ist dahingegen das lebende System mit dem das Informationsmanagement umgesetzt wird.
Sven-Eric Schapke: Die ISO 19650 hat für mich eine besondere Bedeutung, weil sie ganz grundlegend die Art und Weise beschreibt, wie wir heute BIM nutzen. Häufig besteht immer noch das Ideal von BIM, bei dem alle Projektteilnehmer gleichzeitig in einem Modell arbeiten. Dieses Ideal ist im Gesamtprojekt heute kaum realisierbar. Es ist aber auch gar nicht notwendig, um BIM erfolgreich zu einzusetzen. Vielmehr ist es seit vielen Jahren etabliert, dass die Teilnehmer in einzelnen Fachmodellen arbeiten und diese erst zur Analyse zusammenführen. Wir sprechen dann von der fachmodellbasierten Zusammenarbeit und den Koordinationsmodellen. Die ISO 19650 bezeichnet diese Arbeitsweise als „Container-based Collaboration“, weil die Fachmodelle, wie auch Pläne und Dokumente, in Informationscontainern ausgetauscht werden. Der Begriff macht auch deutlich, dass die ISO 19650 sich mit dem Informationsmanagement ganz allgemein befasst. Es geht nicht nur um BIM oder darum, wer im Projekt wofür verantwortlich ist, sondern „nur“ darum wann welche Informationen wie erstellt und wohin geliefert werden.
Redaktion: Wo hat die ISO 19650 ihren Ursprung?
Volker Krieger: Die ISO 19650 ist aus dem Britischen Standard PAS 1192 entstanden. Die PAS 1192 ist das Ergebnis von zwei Untersuchungen, die bereits in den 90er Jahren zur Regierungszeit von Margret Thatcher durchgeführt wurden. Im Latham Report „Constructing the Team“ und dem Egan Report „Rethinking Construction“ hat sich die Regierung gezielt die Entwicklungspotentiale der Bauwirtschaft angeschaut. Wir wissen, dass die Produktivität der Bauwirtschaft weltweit seit vielen Jahren stagniert oder sogar sinkt. Große Bauunternehmen haben 0% Rendite. In der Pharmaindustrie sind es über 30 %. Also irgendwas läuft grundsätzlich falsch.
Die Berichte haben gezeigt, dass das Hauptproblem der Bauwirtschaft im Informationsmanagement liegt. Nicht in der Produktion. Nicht in der Ausbildung. Nicht beim Material. Das ist nicht unbedingt offensichtlich, aber jeder weiß, dass man sich auf Termin- und Preisangaben vom Handwerker nicht verlassen kann. Aufgrund dieser Analysen hat Großbritannien die Bauwirtschaft als einem Schwerpunkt der nationalen Digitalisierung ausgewählt. Mit der PAS 1192 wurde eine ganze Reihe von offenen Standards zum Informationsmanagement herausgebracht. Wie die ISO 19650 befassen sich diese auch zunächst mit den Grundbegriffen des Informationsmanagements. Viele der Begriffe sind seit langem etabliert. Dennoch war es wichtig, diese noch einmal zusammenzufassen und für die Bauindustrie eine einheitliche Sprache zu schaffen.
Sven-Eric Schapke: Ich kann Herrn Krieger nur zustimmen. Großbritannien hat als einer der wenigen Staaten das Innovations- und Digitalisierungsdefizit im Bauwesen als Chance begriffen. Die Regierung hat große Verbesserungspotentiale identifiziert, wie z.B. die Reduktion der Projektlaufzeiten um 50%, der CO2-Emmissionen um 50% sowie die Steigerung des Exports um 50%. Sie haben das Bauministerium mit zusätzlichen Mitteln ausgestattet und eine mehrstufige BIM-Strategie ausgegeben, um die Bauindustrie national und auch international in eine Führungsposition zu bringen. Besonders geschickt war dabei die Definition der Ausbaustufen von BIM. Auch wenn bei der Einführung von „BIM Level 2“ viele Möglichkeiten von BIM zunächst ungenutzt blieben, gab es ein klares und erreichbares Ziel für die Industrie. In Großbritannien wurden dadurch Mindeststandards für das Informationsmanagement und für BIM etabliert, während wir in Deutschland weiter über den perfekten Prozess und das beste System für BIM diskutiert haben.
Redaktion: Wie kann man den Entstehungsprozess der ISO 19650 zusammenfassend beschreiben?
Sven-Eric Schapke: In der „International Organization for Standardization ISO“ sind fast alle Länder dieser Welt durch ihre nationale Normungsorganisation vertreten (Redaktionelle Anmerkung: Aktuell 163 Mitglieder bzw. Staaten). Für Deutschland ist das das „Deutsche Institut für Normung DIN“. Neue Standards werden von den nationalen Organisationen vorgeschlagen und dann in einer internationalen Arbeitsgruppe ausgearbeitet und dann allen zur Abstimmung gestellt. Häufig gibt es bereits einen national etablierten Standard, wie beim Vorschlag der ISO 19650 durch die Briten. In der Arbeitsgruppe der ISO 19650 waren insbesondere die Europäer aktiv nachdem klar war, dass der Standard vom „Europäische Komitee für Normung CEN“ und damit auch von allen von Mitgliedsstaaten übernommen wird. In Deutschland gilt deshalb die DIN EN ISO 19650.
Volker Krieger: Tatsächlich haben sich viele zunächst nicht sonderlich für die ISO 19650 interessiert. Erst nach der Abstimmung beim CEN haben viele gemerkt, dass der Standard in nationalen Verträgen und Gerichtsurteilen auch für uns relevant wird. Es gab deshalb viele Diskussionen und auch Kritik von Architekten, z. B. weil die beschriebenen Informationslieferprozesse nicht konform zur HOAI sind. Dazu muss man sagen, dass die ISO 19650 keine Planungsleistungen definiert und ihre Instrumente, wie EIR, BEP, MIDP, CDE, auf unterschiedliche Projektphasen und Organisationsformen (Einzelvergabe, GP, GU, GÜ) angepasst werden können.
Redaktion: Was ändert sich für die Branche, für die Planer, für die Bauunternehmen durch Einführung der Norm?
Volker Krieger: Meiner Meinung nach gibt es zwei wichtige Änderungen. Zum einen öffnet die ISO 19650 als internationale Norm neue Märkte im Ausland. Sie schafft gleiche Bedingungen für alle Marktteilnehmer und verlässliche Regeln insbesondere auch für deutsche Mittelständler. Umgekehrt gilt das selbstverständlich auch für internationale Unternehmen in Deutschland. Zum anderen ist zukünftig in jedem Projekt ein zentrales System für das Informationsmanagement erforderlich, dass ganz bestimmte Anforderungen erfüllt. Mit anderen Worten: Wenn die Stadt München bei einem neuen Kindergarten die ISO 19650 vorschreibt, dann muss sie oder z. B. einer der Planer auch ein CDE bereitstellen.
Redaktion: Wie verändert sich das Verhältnis zwischen Auftraggeber und Auftragnehmer in Bauprojekten durch die ISO 19650? Welche Vorteile entstehen?
Sven-Eric Schapke: Die ISO 19650 ist aus der Rolle des Bauherrn bzw. des Auftraggebers geschrieben. Beim Bauherrn ergeben sich über den gesamten Lebenszyklus des Bauwerks die größten Mehrwerte durch die Digitalisierung. Gleichzeitig muss er vorausschauend definieren, welche Informationen aus der Planung, Bauausführung und aus dem Betrieb benötigt werden. Viele Bauherren machen das heute nicht, aber ich denke, das wird sich ändern. Bei think project! haben wir viele Industriebauherren, die bereits heute ihrer Verantwortung gerecht werden und umfassende BIM-Abwicklungspläne und Dokumentationsrichtlinien herausgeben. Diese Entwicklung bringt Vorteile für alle Projektbeteiligten. Planer, Berater und Bauunternehmer bekommen sehr viel konkretere Anforderungen an ihre Dokumentation, können ihre Preise besser bilden und wissen, dass ihre Lieferungen auch gebraucht, abgenommen und letztendlich bezahlt werden.
Volker Krieger: Hinzufügen kann man hier, dass die Leute besser informiert zusammenarbeiten und glücklicher beim Arbeitsprozess sind. Das war für mich ein tolles Schlüsselerlebnis, als Markus König damals vor zwei Jahren über die ersten vier großen BIM Pilotprojekte (BIMiD) berichtete. Er wurde gefragt, was war jetzt der große Vorteil? Und alle haben erwartet, wir haben weniger Geld ausgegeben, oder wir waren im Zeitplan. Markus König sagte, wir haben viel mehr Spaß bei der Zusammenarbeit gehabt. Früher haben die Beteiligten viel gegeneinander gearbeitet, ja sogar schon fast gekämpft. Aus Managementsicht weiß man, dass durch Freude bei der Arbeit die Produktivität um ein Vielfaches steigt, nicht nur um 10 oder 20%. Das bringt‘s. Wenn die Projektbeteiligten sagen, wir haben Spaß gehabt, dann weiß ich, das Projekt läuft besser. Unter Strich wirkt sich das dann auch signifikant positiv auf Kosten und Zeit aus.
Redaktion: Einer der wichtigsten Bestandteile der ISO 19650 ist ein Common Data Environment (CDE). Was ist ein CDE, was muss es können?
Volker Krieger: Das Common Data Environment ist eigentlich das haptischste Konzept in der ISO 19650. Im Vergleich zu den abstrakten Managementinstrumenten kommen beim Common Data Environment zusätzlich Software- und Hardwaretechnik mit ins Spiel. Viele Projekte nutzen bereits heute eine gemeinsame Datenablage. Häufig ist diese jedoch statisch und erfüllt nicht die Anforderungen der ISO 19650 an ein flexibles Datenmanagement, die Datensicherheit und die insbesondere die Prozesskoordination. Es ist hochinteressant, was sich da abspielt. Wir gehen weg von einer statischen CDE-Lösung und entwickeln uns hin zur Vernetzung unterschiedlicher Systeme für den jeweiligen Arbeitsprozess. Aus diesem Grund ist die Bezeichnung Common Data Environment Solution and Workflow eigentlich auch sehr passend.
Sven-Eric Schapke: Ein Common Data Environment ist eine Plattform für den strukturierten Austausch von Informationen in klar definierten Prozessen. Zwei Sachen müssen in einem CDE abgebildet werden: Zum einen die Informationslieferungen nach dem MIDP und die zugehörigen Prüf- und Freigabeprozesse. Ganz konkret macht die ISO 19650 hierzu z. B. Vorschläge für den Freigabestatus (Work in progress, Shared, Public, Archived) von Modellen oder Plänen. Zum anderen müssen alle Projektinformationen nach einheitlichen Strukturen organisiert sein. Zusammengehörige BIM-Fachmodelle müssen darüber hinaus auch miteinander verlinkt und koordiniert werden. Aus unserer Sicht als Anbieter eines Common Data Environments handelt es sich dabei jedoch immer nur um Mindeststandards. Viele unserer Kunden haben komplexere Organisationsstrukturen für unterschiedliche Arten von Projektinformationen und weitreichende Workflows für unterschiedliche Koordinationsaufgaben und Projektteilnehmern.
Redaktion: Wo sehen Sie die größte Herausforderung für die Zukunft?
Volker Krieger: Zum einen sehe ich einen enormen Trainingsbedarf. Den haben wir heute schon, denn in diesem Bereich gibt es viel Wildwuchs. Zum anderen wird es mehr preisgünstige Softwarewerkzeuge für die kleinen Marktteilnehmer geben müssen. Aktuell gibt es hier sehr interessante Entwicklungen bei Open Source Anwendungen, Cloud-Anwendungen zur Miete und standardisierten Programmierschnittstellen (API).
Redaktion: Herr Krieger und Herr Schapke, vielen Dank für das Gespräch!
Informationen zu ISO 19650 und Informationsmanagement findet man im kostenlosen Whitepaper „BIM Collaboration – Handbuch zu Standards und deren praktischer Anwendung“: www.thinkproject.com/bim-standards-handbuch
Zur Person
Dr. Volker Krieger (Bild rechts) ist BIM Implementer der TMM Group seit 2009. Darüber hinaus ist er extern tätig mit ähnlicher Aufgabenstellung in europäischen In- und Ausland sowie im MENA Markt. Nach dem Physik- und Chemie Studium Freiburg und mit dem Aufkommen des Internets in Deutschland engagierte er sich auf dem Gebiet der Informationstechnologie. Er ist persönliches Mitglied der Internet Society (isoc.org). Er ist „dienstältestes“ Kommissionsmitglied der ISO WG13, der Geburtsstätte der ISO19650-Reihe, und ist Verbindungsglied zu den verschiedenen BIM Ausschüssen auf DIN und CEN Ebene. Sein neuestes Lieblings-Projekt ist milliways.online - ein Open Source - Public Domain CDE System unter dem gleichnamigen URL, gefördert mit EU-Mitteln vom Wirtschaftsministerium Baden-Württemberg.
Sven-Eric Schapke (Bild links) und Dr. Volker Krieger (Bild rechts)
Sven-Eric Schapke (Bild links) ist Director BIM/PLM bei think project! und leitet seit 2013 die Entwicklung von Cloud-Lösungen für Zusammenarbeit mit BIM. Nach dem Studium an der TU Braunschweig und dem Georgia Institute of Technology, USA war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Bauinformatik der TU Dresden. Er ist aktiv in BIM-Arbeitsgruppen von DIN (DIN NA 005-01-39 AK02 und AK 03, DIN SPEC 91391), ISO (ISO 19650 und ISO 21597) und VDI (VDI 2552 Blatt 3 und Blatt 5) sowie Mitglied des Advisory Board von buildingSMART Deutschland.