Der künftige Stuttgarter Hauptbahnhof ist das Herzstück des Großprojekts Stuttgart 21: Ein unterirdischer Durchgangsbahnhof mit acht Gleisen ersetzt den bisherigen 16-gleisigen Kopfbahnhof. Dadurch können große Teile der oberirdischen Gleisanlagen aufgegeben werden, um Platz für einen kompletten neuen Stadtteil zu schaffen.
60.000 m2 Sichtbetonflächen und fast 100 km Fugen wurden aufwendig bearbeitet und retuschiert. Eine besondere Herausforderung stellten die 28 Kelchstützen dar, die das Schalendach tragen. Bild: Sebastian Hopp
Zentrales Element des Bahnhofsentwurfs ist das begehbare Dach der unterirdischen Gleishalle, das zur Hälfte als städtischer Platz und zur anderen Hälfte als begrünter Teil des Stuttgarter Schlossgartens dient. Das Schalendach wird von 28 Kelchstützen aus weiß eingefärbtem Sichtbeton getragen. Ihre frei fließenden, organischen Formen verleihen dem unterirdischen Raum eine ganz eigene Atmosphäre, wie sie in keinem anderen Bahnhof zu finden ist. Die Kelchstützen öffnen sich nach oben zu so genannten Lichtaugen, die Helligkeit in die Halle bringen.
Die riesigen, bis zu 30 Meter hohen Flächen wurden mit Arbeitsbühnen und Abseiltechnik bearbeitet. Foto: Sebastian Hopp
Eine Schalenkonstruktion ist in dieser Form noch nie gebaut worden. Sie verbindet auf eindrucksvolle Weise Ingenieurskunst und Ästhetik. Die 450 Meter lange und 80 Meter breite komplexe Konstruktion besteht aus frei gekrümmten Flächen, die dem exakten Verlauf der statischen Kräfte folgen. Dabei ist die Konstruktion sehr materialsparend: In der Mitte zwischen den Kelchstützen ist die Betonschale nur 40 Zentimeter dick - bei einer Spannweite von rund 35 Metern.
Hohe Ansprüche an den Sichtbeton
Wie bei Beton üblich, wiesen die Oberflächen nach dem Ausschalen noch nicht die Perfektion auf, die später den Raumeindruck prägen sollte. An einigen Stellen waren die Schaltafeln leicht gegeneinander verrutscht, so dass die Betonflächen einige Millimeter vor- und zurücksprangen. Da die Kelchstützen immer von oben mit Streiflicht beleuchtet werden, warfen diese Unebenheiten Schatten und fielen besonders ins Auge. Auch die unterschiedlichen Oberflächenqualitäten des Betons entsprachen keineswegs den Vorstellungen der Architekten: Mal war er matt, mal leicht glänzend, mal zeigte er unterschiedliche Verfärbungen. Denn durch verschiedene Faktoren während der Herstellung wie Außentemperatur, Verweildauer in der Schalung, verwendetes Schalöl und unterschiedlich starke Verdichtung war er mal dunkler, mal heller. Zudem wies sie Spuren des Bauprozesses auf. So zeichneten sich auf der Deckenoberfläche Spuren von temporären Abstützungen ab. Technisch unvermeidbar, aber gestalterisch unerwünscht waren die Ankerlöcher und einige Fugen, die den eleganten Schwung der Kelchstützen optisch störten. Es war daher klar, dass die Oberflächen überarbeitet werden mussten. An einem Musterpfeiler wurde die Betonretusche getestet. Nach etwa zehn Nachbearbeitungsversuchen war das gewünschte Erscheinungsbild erreicht.
Die Herausforderung: Nach dem Ausschalen weist der Beton eine inhomogene Oberfläche mit Fugen, Löchern und Unebenheiten auf. Bild: Sebastian Hopp
Mit der anschließenden Gestaltung der Betonflächen wurde die renommierte Firma beconart beauftragt, auf deren Vorschlag hin die mineralische Produktpalette von KEIM zum Einsatz kam. Zunächst wurden Unebenheiten ausgeglichen. Dazu mussten Vorsprünge abgetragen, Rücksprünge und Lunker aufgefüllt und Kantenausbrüche ausgeglichen werden. Die Ankerlöcher in den Decken wurden verschlossen, indem Verschlusskonen eingeschraubt und verklebt wurden. Anschließend wurden die betroffenen Stellen aufgeraut und mit Feinspachtel geglättet, um sie an die umliegenden Bereiche anzugleichen. Ähnlich gingen die Handwerker bei Fugen vor, die auf Wunsch der Architekten optisch ganz verschwinden sollten.
Meisterwerk der Ingenieurskunst: Die geschwungenen Kelchstützen und die gekrümmten Flächen der Lichtaugen in der Gleishalle. Bild: Sebastian Hopp
Für die großen Flächen war eine Farbangleichung vorgesehen, die gegensätzliche Anforderungen erfüllen musste: Einerseits sollten die unterschiedlichen Farbtöne der einzelnen Bereiche angeglichen werden, andererseits sollte der Beton nicht unter einer deckenden Farbschicht verschwinden, sondern seinen steinernen Charakter behalten. Hier konnte die Concretal-Lasur ihre Stärken ausspielen. Als mineralisches System erhält sie die sichtbare, offenporige Struktur des Betons, da sie keinen deckenden Film auf der Oberfläche bildet. Um ein möglichst natürliches Erscheinungsbild zu erzielen und den Beton durchscheinen zu lassen, wurde die Lasur mit Grundierung und Fixativ verdünnt, mit Airless-Gerät und Rolle aufgetragen und anschließend von Hand mit einem Naturschwamm und tupfenden Bewegungen verschlichtet. Dadurch entsteht ein leicht wolkiger Eindruck, der dem unbehandelten Beton sehr nahe kommt. Nach zwei Arbeitsgängen passte das beconart-Team die noch durchscheinenden Fehlstellen, die sich aus den Anwendungen und starken Farbunterschieden ergaben, durch lokale Retusche an die umliegenden Bereiche an. Ebenso wurde mit den zuvor mit Konus verschlossenen Stellen verfahren.
Makelloses Erscheinungsbild: Die fertig bearbeitete Oberfläche einer der Kelchstützen. Bild: Sebastian Hopp
Insgesamt wurden auf diese Weise rund 60.000 Quadratmeter Sichtbeton und knapp 100 Kilometer Fugen saniert. „Das war teilweise ein echter Knochenjob“, erklärt beconart-Geschäftsführer Martin Berger: „Unter der Decke mussten wir großflächig über Kopf arbeiten. Dafür waren mehrere Arbeitsbühnen nötig, um in Höhen von bis zu 15 Metern zu gelangen. Im Schnitt waren wir drei Jahre lang mit 12 bis 15 Personen vor Ort, um den Sichtbeton zu veredeln. Während wir an einem Ende der Baustelle bereits die ersten ausgeschalten Kelchstützen überarbeiteten, wurden am anderen Ende noch neue Kelchstützen gegossen“. Durch das parallele Arbeiten liegt zumindest dieses Gewerk gut im Zeitplan. Wenn nichts mehr dazwischen kommt, werden die Oberflächen im Herbst 2024 fertiggestellt, einige Monate früher als geplant.
Die Reisenden, die den Bahnhof nach der Eröffnung nutzen, werden nichts von der aufwendigen, fast restauratorischen Nachbehandlung der Kelchstützen und Decken ahnen. Der Beton wirkt so natürlich, als sei er direkt aus der Schalung gekommen. Die Raumidee der Architekten, die auf die Dynamik und Eleganz der geschwungenen Betonformen setzt, kann so ungestört ihre Wirkung entfalten.
Projekt: Stuttgart 21, www.bahnprojekt-stuttgart-ulm.de
Architektur: ingenhoven associates, www.ingenhovenarchitects.com
Betonveredelung: beconart, www.sicht-beton.com
KEIM-Produkte, www.keim.com
KEIM Concretal-Base, KEIM Concretal-Fixativ, KEIM Concretal-Lasur
Bilder: Sebastian Hopp, www.sebastian-hopp.com